In Bolivien sind die Kinder reich.

Ein mehrteiliges Projekt von kulturbeat

„Kinderarbeit gehört verboten!“ – Eine Aussage, die ich vor fünf Jahren ohne weiteres so unterschrieben hätte. Seit meiner Beschäftigung mit den arbeitenden Kindern und Jugendlichen in Bolivien hat sich mein Bild bezüglich „Kinderarbeit“ verändert: In Bolivien haben Delegierte der vereinten arbeitenden Kinder und Jugendliche UNATSBO1 den Politiker*innen einen Gesetzesentwurf vorgelegt, in dem sie ihr Recht einfordern, unter würdigen Bedingungen zu arbeiten.

Das war der Stand, als ich im Sommer 2014 nach Bolivien gereist bin und an verschiedenen Orten Interviews mit arbeitenden und ehemals arbeitenden Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen geführt habe. Ich wollte ihre Geschichten kennenlernen, ihre Lebensumstände, ich wollte verstehen, was absurd klingt und unerträglich erscheint. Auf dieser Basis habe ich ein mehrteiliges Konzept zwischen künstlerischer und sozialer Arbeit entwickelt.
2015 habe ich zunächst an der Berliner Friedensburg-Oberschule Workshops mit Kinderrechtsexpertinnen durchgeführt, 2016 leitete ich als nächstes dort gemeinsam mit einer Lehrerin für Ethik und Szenisches Spiel eine Schultheater-AG. Hier setzten sich die Jugendlichen spielerisch-experimentell mit dem Thema auseinander. Meine eigene künstlerische Umsetzung ist in Planung.

Mir ging es von Anfang an um Aufklärung, Verständnis und auch darum zu zeigen, was möglich ist, wenn man sich als vermeintlich ’schwächstes‘ Glied der Gesellschaft zusammentut und seine Situation verändern möchte. Die harten Lebensumstände der Kinder und Jugendlichen sind nicht zu verleugnen und auch nicht gut zu reden. Dennoch habe ich bewusst den Titel des Gesamt-Projektes ausgewählt, um zu zeigen, dass ich keine ‚Opfer‘ kennengelernt habe. In das Gesamtprojekt „In Bolivien sind die Kinder reich.“ fließen die Diskurse mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit meiner persönlichen Reflexion über die Begegnungen in Bolivien zusammen.
Ich habe starke und reife Persönlichkeiten getroffen, die trotz ihrer Lebensumstände lebensfroh sind und wertschätzen, was sie haben. Sie sind reich an Werten, Träumen, Erfahrungen, Energien und Hoffnungen. 

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Ende Januar 2015 habe ich in Zusammenarbeit mit Studierenden und Graduierten des Master-Studiengangs Childhood Studies and Children’s Rights der Freien Universität Berlin bereits zwei Workshops zum Thema durchgeführt. Ein großer Dank gilt an dieser Stelle diesem Expertinnen-Team aus dem Bereich Kinderrechte: Sie haben ehrenamtlich gearbeitet und sind mit mir diesen ersten wichtigen Schritt gegangen. Auch danke ich Professor Manfred Liebel und Peter Strack für ihre wissenschaftliche Unterstützung und die Vernetzung mit den bolivianischen Kindern, Jugendlichen, Organisationen in Bolivien und in Deutschland.
Philip Meade von ProNATs hat mich im Vorfeld der Workshops beraten, vielen Dank!
Die Gemeinschaftsstiftung-terre des hommes e.V. hatte 2014 die Ideelle Schirmherrschaft für das Gesamtprojekt zugesagt. Auch hier vielen Dank für das Vertrauen.

© Léa Klaue 2014

Zum Hintergrund des Projekts:

Arbeiten ist eine Realität für viele Mädchen und Jungen in Bolivien – Verbote treiben sie in die Illegalität und somit in den rechtsfreien Raum einer menschenunwürdigen Ausbeutung. Dagegen kämpfen die NATs2 in erster Linie an. Nach einem jahrelangen Kampf um Anerkennung wurden die Delegierten der UNATSBO von den Politikerinnen und Politikern in die Ausarbeitung des Gesetzes eingebunden. Weltweit einzigartig in der Geschichte.

Im August 2014 ist das neue Kinder- und Jugendgesetz in Kraft getreten, das für die Arbeitsregelungen Folgendes vorsieht: Mit einer staatlichen Sondergenehmigung der örtlichen Kinderschutzstellen können bereits Zwölfjährige eine Arbeit in Anstellung ausüben und Zehnjährige den selbständigen Erwerb. Die Sondergenehmigung soll erteilt werden, wenn bei der Arbeit alle Kinderrechte gewahrt werden und sie von den Kindern gewollt ist.

Ein Aufschrei ging durch Deutschland. Und im Europäischen Parlament gab es den Vorstoß, gegen Bolivien Sanktionen einzuleiten, da Bolivien damit die Konvention 138 der ILO(International Labour Organization) verletze. Mittlerweile gab und gibt es einige Anhörungen, zu denen Expert*innen wie der Soziologe Professor Manfred Liebel eingeladen wurden. Die Entwicklungshilfe, so der Wunsch und die Hoffnung, kann dabei helfen, die örtlichen Kinderschutzstellen besser auszustatten und das Personal zu qualifizieren. Auf diese Weise würde gewährleistet, dass sie die im Gesetz vorgesehenen Aufgaben erfüllen und inbesondere als Anlaufstellen der Kinder und Jugendlichen dienen können.

Ende Mai bis Anfang Juni 2015 waren Lourdes Cruz Sanchez, als Delegierte der UNATSBO, und Vertreter*innen der lateinamerikanischen Bewegung MOLACNATS3 in Belgien, Deutschland und der Schweiz zu Gesprächen eingeladen. Ich habe Lourdes in Bonn wiedergetroffen, bei einem Fachgespräch, das die Kindernothilfe gemeinsam mit terre des hommes veranstaltet hat.

© Kindernothilfe 2015
© Kindernothilfe 2015

Meine Recherche begann mit einem Zeitungsartikel über Lourdes, der siebzehnjährigen Kämpferin aus Potosi, die mittlerweile Sozialarbeit  studiert. Sie ist kein Einzelfall. Entgegen der Vorurteile gehen viele der arbeitenden Mädchen und Jungen in Bolivien zur Schule. Die meisten Kinder und Jugendlichen arbeiten, um sich den Schulbesuch (Materialien) leisten zu können oder um ihre Familien unterstützen zu können. Ein pauschales Verbot würde deshalb nicht bewirken, dass sie aufhören zu arbeiten.

Auch sollte man bei dem Thema den kulturellen Kontext betrachten. In Bolivien, wie in vielen Teilen Lateinamerikas, bedeutet Bildung nicht nur Schule, sondern auch Arbeit. Das Kindheitskonzept umfasst in der indigenen Bevölkerung das Bild eines vollwertigen Mitglieds der Gesellschaft, das seinen Anteil zum Gemeinschaftswohl beiträgt. Viele Kinder und Jugendliche sind stolz auf ihre Arbeit, aber die Bedingungen müssen stimmen. Und natürlich sind sich dabei alle NATs und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer einig: Ausbeuterische Kinderarbeit gehört abgeschafft, kein Kind sollte arbeiten müssen, weil es anders seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten oder die Schule nicht besuchen könnte. Daher fordern die Kinder und Jugendlichen Alternativen, anstatt pauschale Verbote auszusprechen. Es ist ein, ich vermute speziell für Europäerinnen und Europäer, „unbequemes“ Thema, das einer differenzierten Betrachtungsweise unterzogen werden muss.

Was Kritikerinnen und Kritiker meiner Meinung nach vor allem nicht ignorieren dürfen, ist die Tatsache, dass sich hier die Betroffenen – die Kinder und Jugendlichen (ja auch in Unterstützung von Erwachsenen) – zusammengetan haben, um zum Einem ihre Situation zu verbessern und zum Anderen, um würdigende Anerkennung zu erhalten. Es ist Partizipation im besten Sinn und bedarf unabhängig von der ernsten Thematik das Gehör der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auch außerhalb Boliviens.

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1UNATSBO: Unión de Niñas, Niños y Adolescentes Trabajadores de Bolivia = Vereinigung der arbeitenden Mädchen, Jungen und Heranwachsenden Boliviens
2Die Silbe ‚NATs‘ steckt in allen Namen der (regionalen) Vereinigungen, die hier in Deutschland als Kindergewerkschaften bezeichnet werden. Die Vereinigungen gingen Ende der 70er Jahre zuerst in Peru hervor.
3MOLACNATS: Movimiento Latinoamericano y del Caribe de Niñas Niños y Adolescentes Trabajadores