Ein Text von Maren Butte, geschrieben für das Programmheft zur damaligen Premiere von HARENJULE & The Singing Buskers
Jeden Tag passiert man sie in Großstädten und anderswo: Straßenmusikerinnen und -musiker. Sie spielen allerorts, erzeugen eine besondere Atmosphäre und sich wandelnde Stadt-Klang-Bilder. Klänge blenden sich ein und aus oder überlagern sich. Man besucht Sphäre um Sphäre, hört Klassik bis Hip-Hop, sieht Gitarren, Akkordeon und Geigen. Warum spielen die Musikerinnen und Musiker auf der Straße, zwischen den Passanten, Autos und Lärm? Ist eine U-Bahn-Station freier Raum zum Ausprobieren neuer Kompositionen? Oder gibt es etwas, das sie gerne kommentieren möchten, über Politik, Gesellschaft, die Geschichte der Stadt? Welche Münze landet im Gitarrenkoffer? Welches Urteil fällen die Zuhörer_innen, denen sie sich aussetzen? Oft sind die Lieder selbst geschrieben und erzählen als Singer-Songwriter-Stücke sehr persönliche Erfahrungen. Sie sind ein Kaleidoskop an Gefühlen und verweisen auf Traditionen wie Bänkelgesang und Troubadoure.
Doch die Musizierenden erscheinen uns oftmals als Randnotiz, als Nebenerscheinung zu den gängigen Theater- und Konzerthäusern; ihre Kunst findet draußen statt, ist umsonst und flüchtig.
Harfenjule & The Buskers. Musikgeschichten von der Straße (von Silke Saalfrank) holt die Musik auf die Bühne und ist eine Hommage an die oft unbemerkten Klangkünstler_innen. Sichtbar wird so das Spezielle dieser Kunst: das Besondere im Alltäglichen, die geformte Melodie in der Flut der alltäglichen Sounds, das Innehalten in der Flüchtigkeit des Lebens. Silke Saalfrank hat für das Stück dokumentarisches Material, Interviews und Feldstudien vermischt und versetzt es nun bewusst in die fiktive Situation der Bühne. Die Dynamik der Straßenmusik und die Poesie des Moments erscheinen dabei wie unter dem Vergrößerungsglas.
Im Stück ist es nicht zufällig eine „echte“, historische Figur, eine Straßenmusikerin der ersten Stunde, die auf heutige Kolleginnen und Kollegen trifft, auf archaische Typen und individuelle Lebensgeschichten: die sogenannte Harfenjule. Die alte Dame blickt auf ein bewegtes Leben zurück und versammelt in sich viele Momente des Draußen-Musizierens. So wirft sie einen nahen und doch gleichzeitig distanzierenden Blick auf die heutige Praxis des Straßenmusizierens. Doch ist sie wirklich die berühmte Harfenjule, die im 19. Jahrhundert in den Hinterhöfen Schönebergs musizierte? Was wissen wir über ein flüchtiges Leben, über die Biografie einer Harfenspielerin, von der es – außer in der „oral history“ von Gedichten und Berichten – keine Quellen und keine Zeugnisse mehr gibt? Was bleibt von einer der flüchtigsten aller Kunstformen, der Straßenmusik, übrig? Wie ist es für die Performer_innen zu altern; und wie gehen wir überhaupt mit alternden Menschen in unserer Gesellschaft um? Wie spiegelt sich das in der Kunst? Silke Saalfrank legt diese Fragen offen und lässt die zugleich betagte und alterslose Figur von einem Zwischenwesen verkörpern: einer Puppe (gespielt von Friederike Hellmann). Einer Puppe mit einem Gesichtsausdruck, der zwischen Melancholie und Lächeln changiert, und in den sich einige Lebenserfahrungen eingeschrieben zu haben scheinen. Eine unbelebt-belebtes Wesen flaniert durch die imaginären Straßen Berlins – vom Alexanderplatz über den Mauerpark nach Schöneberg –, die nicht nur geographisch bestimmt sind, sondern durch Klänge, Geräusche und Musik (Sound: Frank Junker).
In seinem Essay über das Marionettentheater schrieb 1810 Heinrich von Kleist über die Anmut der Puppen. In der scheinbar bewusstseinslosen Bewegung der Marionette spiegele sich eine Grazie, die der unendlichen, göttlichen Schönheit nahekomme und die ein Tänzer nur beneiden kann. Die Gliederpuppe habe, wie der tanzende Bär, eine kindliche Unschuld, die nur schwer wiederzuerlangen sei. Eine solche Schönheit und Weisheit der Puppen inszeniert und hinterfragt Silke Saalfrank in „Harfenjule“. Als Zuschauer_in spürt man in der Harfenjule jene Durchdrungenheit von Lebenserfahrungen und Musik, von Demut und Humor, Kunstfertigkeit und Zufall, die das Leben der Harfenjule (und vielleicht auch der heutigen Straßenmusikerinnen und -musiker) bestimmte. Und auf dem Heimweg wird man sicher aufmerksamer durch die Stadt gehen.
Maren Butte